FIFA WM 2006 - Kolumnen


Während meiner Zeit als Volunteer bei der FIFA WM 2006 hatte mein "Kollege" Sven, welcher für den Lokalbereich der Torgauer Zeitung tätig war, die Möglichkeit in einzelnen Kolumnen über unsere Tätigkeit rund um das Zentralstadion Leipzig dort zu berichten.

Gerne lasse ich euch an den Texten teilhaben:

Kolumne vom 13.06.2006 -  "Ein perfekter Tag – nicht nur für Leipzig" (externer Link)

Samstag, kurz vor 20 Uhr, die Trainingseinheiten der beiden ersten WM-Protagonisten in Leipzig sind schon längst vorbei. Ruhe ist eingekehrt in Leipzigs MediaCenter, nur noch wenige Journalisten sitzen an ihren Laptops, begrenzen ihre Tätigkeiten aber auf leichte Konversation.
Vor mir steht ein holländischer Fotograf, Dr. Johannes de Koning vom KNVB-Magazin, der offiziellen Zeitschrift des niederländischen Fußballverbandes. Er erklärt mir, dass er durch einen Fehler seines Chefs versehentlich nicht für das Leipzig-Spiel auf einen der 150 Fotoplätze am Spielfeld angemeldet ist. Trotz angenehmer Unterhaltung über das in Orange getauchte Leipzig, kann ich ihm nur einen Platz auf der Warteliste anbieten.
Er nimmt es locker, meine wörtliche Übersetzung von „die Letzten werden die Ersten sein“ versteht er zwar nicht, aber das macht nichts. Er ist zufrieden, freut sich auf morgen. Früh ist er am Spieltag wieder vor Ort, heiß darauf, noch einen guten Platz zu ergattern. Nachdem alle seine rechtzeitig angemeldeten Kollegen versorgt sind, kommen die Herren der Warteliste an die Reihe. Dr. de Koning hat dort die erste Priorität, weil seine „Elftal“ spielt.
Die verbleibende Platzwahl ist begrenzt, aber er ist dabei – andere nicht. Die Nachfrage ist einfach zu groß. Am Spielfeld treffe ich ihn wieder, weise ihn ein und er ist zufrieden mit dem Platz, sitzt im Schatten hinter dem Tor und Holland wird in der ersten Hälfte auf ihn zustürmen. Der Siegtreffer von Arjen Robben fällt genau vor seiner Linse, die nachfolgende Jubelszene der Oranje ist zum Greifen nah.
Ich sehe ihn erst nach dem Spiel wieder, im Fotografen-Arbeitsraum. Er kommt sofort zu mir, wiederholt mehrfach hocherfreut: „a perfect day“ – für ihn und für die Niederlande mit Sicherheit. Doch auch für mich. Zu Spielbeginn stehe ich an der holländischen Trainerbank keine zwei Meter vor Rafael van der Vaart, sichere mit ab, dass die Fotografen das Spielfeld nicht betreten. Als die Nationalhymne der Niederlande ertönt, zeigen sich zehntausend Kehlen bestens geölt und sorgen bei mir für Gänsehaut – oder besser gesagt Oranjehaut.
Eines sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Die Fotografen aus dem „Koninkrijk der Nederlanden“ scheinen die Intelligentesten ihrer Gilde zu sein, denn jeder Dritte von ihnen, der in Leipzig war, hatte mindestens ein Dr. vor seinem Namen.

Kolumne vom 16.06.2006 -  "Die Kaffeesatzleser in der Messestadt" (externer Link)

Wenn Sie sich mal wieder auf der Leipziger Kleinmesse bei einer Wahrsagerin die Zukunft aus dem Kaffeesatz lesen lassen wollen, dann habe ich einen Tipp. Einfach ein paar Hundert Meter vorher rechts abbiegen und im Leipziger Zentralstadion einkehren. Dort scheint jemand den berühmten siebten Sinn für sich gepachtet zu haben.
Am Mittwoch kurz vor Mittag, Klara hatte sich schon zu ihrer Hauptarbeit in Schale geworfen, stand für die am Spielfeld tätigen Volunteere die Generalprobe auf dem Programm. Eine interessante Prozedur, bei der die Abläufe beim Einmarsch der Mannschaften noch einmal abgestimmt werden. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wollen sich auch Ehrenamtliche keine Blöße geben. Zur gleichen Zeit gab es auch einen Test für Stadionsprecher Rene Kindermann und die Anzeigetafel. Darauf war alsbald der erste Treffer zu lesen.
Die Probe endete mit vier Toren für Spanien, einer roten Karte für die Ukraine und einem Tor für die Ukraine. Stimmte fast perfekt, den anvisierten Treffer für die Blochin-Elf sollte Shevtschenko schießen. Angesichts der Gluthitze im noch ungefüllten Rund kann man diesen Lapsus sicherlich verzeihen, ansonsten stimmte es aber auffallend. Auf jeden Fall hatten die Fans in rot-gelb-rot mehr zu jubeln als die Ukrainer, die trotz orangener Revolution im Herbst 2004 den Siegeszug dieser Farbe in Leipzig nicht fortsetzen konnten.
Während Manolo kräftig seine Pauke bediente, hatten andere Fans von der Iberischen Halbinsel vor allem Augen für die schönen Frauen. Nina Pauls, als Volunteer mit mir am Spielfeldrand, hatte sich denn auch der Avancen der heißblütigen Spanier zu erwehren. Immer wieder schalte es von den Rängen ein „Ich liebe dir.“ oder „Du bischt wunderscheeen.“ Manch einer hatte auch die Worte falsch gewählt und schon hieß es „Isch bin wunderscheen.“ Nina jedenfalls amüsierte sich köstlich, hatte aber wie die anderen Fotografen-Volunteere am Spielfeld keine Zeit, eine Deutschstunde abzuhalten.
Vielmehr musste in der Großraumsauna Zentralstadion die Versorgung der Fotografen mit Wasser ständig am Laufen gehalten werden. Kleiner Nebeneffekt für mich, Pigmente gab es nebenbei gratis. Also, noch Haare schwarz färben und ich werde vielleicht für Spanien nachnominiert. Könnte maximal an der Körpergröße scheitern, denn mit 1,85 cm wäre ich bei Raul, Xavi & Co. ein Riese.

Kolumne vom 20.06.2006 -  "Chinesische Mauer in Leipzig" (externer Link)

„Die Welt zu Gast bei Freunden“ heißt der offizielle WM-Slogan. Vor dem Spiel am Sonntag in Leipzig hätte man denken können, die akkreditieren Fotografen sind der deutschen Gastfreundschaft überdrüssig, wollen nach Hause. Vor unserem Schalter bildete sich schon vier Stunden vor der Ausgabe der SAD, der Sonderausweise für das Betreten des Stadion-Innenraumes, eine Kofferschlange. Wer sich im Geschäft auskannte, der wusste, es ist weder der Abflugschalter in Richtung Mallorca, noch die Leipziger Variante der Chinesischen Mauer. Letzteres hätte sicher gut zur kürzlich beendeten Ausstellung der Terracotta-Armee gepasst. 
Nein, was wie deutsche Gründlichkeit in Sachen Organisation und Ordnung anmutete, resultierte aus koreanischen Frühaufstehertum und dem Nachahmungseffekt. Auch der britische Fotograf Anthony Quinn – ja er hieß wirklich so – konnte sich zwar ein „stupid“ (bescheuert) nicht verkneifen, seinen Fotokoffer stellte er dennoch an das Ende der Schlange. Irgendwann war der Raum von einer Kofferwand durchzogen und nur noch mit bergsteigerischem Know-how zu durchschreiten. Pfiffigkeit bewiesen die Fotografen allerdings, als sie die „Leipzig Wall“ direkt am Schalter der Deutschen Telekom enden ließen, der damit nicht mehr zugänglich war. Erst nach umfangreichen Umbaumaßnahmen der Volunteere konnte dort die Arbeit fortgesetzt werden. Im Kreise der Ehrenamtlichen zeigten sich des Öfteren die Farben bleu-blanc-rouge (blau-weiß-rot). Der Auftritt der Equipe Tricolore war ein Feiertag für unsere französischen Volunteere.
Immerhin war für Chloe, Melanie, Michäele und Romain dieses Spiel ein Hauptgrund für die Volunteer-Bewerbung in Leipzig. Und sie wurden nicht enttäuscht. Früh hatte das französische Fernsehen live mit Arsene Wenger (Trainer von Arsenal London) aus dem Stadion berichtet – Chloe & Co. waren dabei. Größer noch die Augen, als Guy Roux (Trainerlegende aus Auxerre) an unserem Schalter auftauchte. Chloe ließ ihren Charme spielen und schon stellte er sich für ein französisches Gruppenbild zur Verfügung – Lächeln inklusive. Das war Chloe nach dem Spiel völlig vergangen, obwohl sie in der „MixedZone“ noch Interviews mit Frankreichs Kickern für offizielle Homepage www.FIFAworldcup.com machen durfte. Mein Vokabeltraining, welches sie mir immer in ruhigen Minuten zu Teil werden lässt, begrenzte sich denn auch auf Begriffe, deren Erwähnung ich hier besser unterlasse.

Kolumne vom 22.06.2006 -  "Der Franzose ist ein seltsames Wesen" (externer Link)

Verrückt dürfte es nicht vollständig umschreiben, was sich Romain Desbrest, mein französischer Mit-Volunteer hat einfallen lassen, um Studium und Weltmeisterschaft unter einen Hut zu bringen. Für den 22-Jährigen aus der Nähe von Versailles, der in Nancy eine Wirtschaftsschule besucht, fielen WM und Prüfungszeit aufeinander. Dass er dem Fußball dabei den Vortritt lässt, muss man vielleicht noch nicht einmal verrückt nennen. Auch nicht, dass er zwischen zwei Volunteer-Diensten „mal kurz“ zwei Prüfungen geschrieben hat, ist an und für sich nicht verrückt. 
Verrückt wird es erst, wenn die Dienste keine 48 Stunden auseinanderliegen und die zwei Tatorte aber mehr als 700 Kilometer. Nun könnte man mit dem Flieger die Entfernung in nicht einmal zwei Stunden hinter sich bringen. Doch dies wäre wohl zu einfach und auch zu teuer gewesen. Also hat sich Romain gedacht, die kompliziertere Tour wäre die bessere. Nach dem Frankreich-Spiel durfte er mit mir zusammen bis 2 Uhr im Sportforum Dienst schieben. Während ich mein warmes Bett aufsuchte, ging es bei ihm schnell in die Jugendherberge. Einmal kurz unter die Dusche, die Sachen gepackt und etwas gegessen, dann aber schon ab zum Bahnhof. Dort fuhr kurz nach 4 Uhr in der Frühe sein ICE nach Saarbrücken, dort ging es mit einem französischen Expresszug über Metz bis Nancy. Die Ankunftszeit lautete 12.37 Uhr, keine zwei Stunden später saß er über der ersten Prüfung zum Thema Controlling. Danach folgte noch eine Prüfung in Verwaltungswesen. Aber kein Problem, auch das wurde geschafft. Über den Erfolg konnte und will er nicht nachdenken.
Nach der Prüfungen (18 Uhr) ging es zur Freundin, um noch einmal zu duschen und etwas zu essen. Für längere Gespräche blieb allerdings keine Zeit, denn 22 Uhr wurde er bis zur Autobahn gefahren. Denn verrückt genug war es bisher noch nicht. Den Daumen im Anschlag, ein Pappschild mit der Aufschrift „Leipzig“ in der Hand trampte er sich zurück in die Messestadt. Ein Franzose (bis Saarbrücken), ein Deutscher (Würzburg), ein Spanier (Nürnberg) und zwei weitere Deutsche ließen ihn am Dienstag kurz vor 11 Uhr wieder in Leipzig ankommen. Danach folgte ein sehr kurzes Schläfchen, denn ab 13.30 Uhr war er schon wieder zum Dienst beim Training der Iraner und Angolaner im Stadion eingeteilt. Dort kam Romain zwar eine halbe Stunde zu spät, aber wer wollte dem verrückten Franzosen dies verdenken.

Kolumne vom 27.06.2006 -  "Aus und vorbei – zurück in den Alltag" (externer Link)

Aus und vorbei, die Fußball-Weltmeisterschaft. Nicht für die Nationalmannschaft, nicht für Deutschland, aber zumindest für Leipzig. Und damit auch für mich als Volunteer. Am Sonntag, 4.35 Uhr, war mein offizieller Schlusspfiff. Zuvor gab es noch einmal Emotionen pur, Argentinien und Mexiko hatten sich im stimmungsgeladenen Achtelfinale dankenswerterweise sogar noch dazu hinreißen lassen, uns eine Verlängerung zu gönnen. Das Ende war somit mit dem Confed-Cup zu vergleichen, als die Mexikaner gegen Deutschland im kleinen Finale auch erst nach 120 Minuten unterlegen waren.  
Für die Volunteers war aber eine Veränderung deutlich zu spüren. Während im Vorjahr nach dem letzten Spiel die Freude auf das kommende Jahr deutlich zu spüren war, gab es diesmal nach dem letzten Abpfiff einige lange Gesichter. Denn nun ist es wirklich vorbei und das kurze, intensive Live-Erlebnis Fußball-Weltmeisterschaft ist somit zur Geschichte eines jeden von uns geworden. Da hatte es schon beinahe etwas von Ferienlageratmosphäre, als sich alle Medien-Volunteers 1.30 Uhr noch einmal im Mittelkreis des Zentralstadions versammelten, für sich selbst die Welle animierten, unzählige Erinnerungsfotos machten und sich gegenseitig Unterschriften auf ihrer Volunteer-Kleidung hinterließen. Nicht nur durch Unterschriften ist die blaue Ausstattung der Ehrenamtlichen für sie wertvoll. Auf meinem Weg vom Stadion in die Stadt in den frühen Morgenstunden, erhielt ich allerhand Angebote zum Tausch oder Kauf. Bis zu 70 Euro wurden mir für das Polo-Shirt angeboten. Darauf eingegangen bin ich allerdings nicht. Zumindest getauscht haben jedoch einige. Der verrückte Romain, der übrigens am gestrigen Montag schon wieder eine Prüfung in Nancy abgelegt hat, ertauschte sich ein Argentinien-Trikot und Moritz brachte sein Base-Cap eine blau-weiße Fahne ein. Apropos tauschen, ein Mexikaner erwischte mich vor dem Spiel an der Straßenbahnhaltestelle. Er war auf der Suche nach einer Karte für das Match und hatte sich im Schatten der Leipzig-Arena mit einem Pappschild aufgestellt. Darauf war in Spanisch und Deutsch Folgendes zu lesen: „Tausche meine Frau gegen eine Eintrittskarte.“ Ich weiß nicht, ob jemand seine Frau als Tauschobjekt akzeptiert hat. Ich weiß aber, dass die WM für mich eine ereignisreiche Zeit war und jetzt der Alltag zurück ist. Zumindest für Medienvolunteere wie mich. Einige andere, auch Walter Haase aus Torgau, werden in den nächsten Tagen noch im Einsatz bleiben. Ihre WM endet später, die der Klinsmänner hoffentlich auch – am 9. Juli in Berlin.